Es käme der Sache ziemlich nahe, würde man der Auffassung sein, Khajuraho als ein einziges großes Missverständnis anzusehen, zumindest wenn man die neuzeitlichen Interpretationen der steinernen Szenen an den verschiedenen Tempeln bedenkt. Von ferne betrachtet, wirken sie noch ganz unproblematisch. Wie stumme Zeugen einer lange untergegangenen Hochkultur erheben sich Dutzende von Tempeltürmen über der Ebene.

Tänzerin
Was letztlich jedoch Khajurahos eigentliche Bedeutung ausmacht und jedes Jahr Zehntausende von Besuchern anlockt, sind die in unvergleichlicher Fülle und Detailgenauigkeit dargestellten erotischen Szenen. Das lustvolle Über-, Unter- und Nebeneinander der offenkundig höchst engagierten Darsteller zeugt von ebenso reicher Fantasie wie von fast schon olympiareifer Akrobatik. Oft ist schon ein zweiter Blick erforderlich, um herauszufinden, wer sich mit wem und wie der sexuellen Lust hingibt. Welch für heutige Verhältnisse bizarr anmutende Fantasie die Steinmetze bei ihrer im wahrsten Sinne des Wortes lustvollen Arbeit antrieb, zeigt eine Szene, bei der ein Reitersmann die Liebe zu seinem Pferd allzu wörtlich nimmt. Die beiden dem Geschehen beiwohnenden Beobachter, die ob solcher Freizügigkeit die Hände vors Gesicht schlagen, machen deutlich, dass derartige Sexualpraktiken auch zur damaligen Zeit als zumindest gewöhnungsbedürftig angesehen wurden.