Indische Hochkulturen 300–399
Die Regierungszeit der nordindischen
Gupta-Dynastie im 4. und 5. Jahrhundert gilt als das goldene Zeitalter des
mittelalterlichen Indien, dessen kultureller Einfluss noch lange darüber
hinaus bestimmend blieb. Indische Hochkulturen sind zwar viel älter,
allerdings schriftlich lange Zeit kaum überliefert. Das hängt mit
der indischen Philosophie zusammen, in der nicht die einmalige Begebenheit,
sondern nur das zeitübergreifend Gültige von Bedeutung ist. So beruhen
unsere Kenntnisse der Geschichte des vorislamischen Indien auf Quellen, die
für andere Hochkulturen nur als geschichtliche Nebenüberlieferungen
gelten, z. B. auf der Archäologie oder Berichten ausländischer
Reisender.
Harappa-Kultur
Die Indus-Kultur der Bronzezeit wurde
nach ihrem ersten Fundort auch als Harappa-Kultur bezeichnet (2500–1500
v. Chr.). Die Siedlung Mohenjo-Daro besaß bereits ein für
das Altertum einzigartiges Be- und Entwässerungssystem und viele mehrstöckige
Häuser. Die Einwohnerzahl der Stadt wurde für ihre Blütezeit
auf 35 000 Menschen geschätzt. In der strengen Einteilung der
Stadtviertel wird die Grundlage eines an Beruf und Erblichkeit gebundenen
Kastensystems vermutet, das sich bis heute auswirkt. Die Religion der Harappa-Zivilisation
weist überraschende Ähnlichkeiten mit dem Hinduismus auf (so galten
etwa Kühe als heilig). Die offenbar friedliebenden Menschen, deren Städte
keine militärischen Anlagen aufwiesen, standen dem bewaffneten Ansturm
der Arier um 1500 v. Chr. wehrlos gegenüber.
Herrschaft der Arier
Die Epoche der Arier, eines hellhäutigen
Hirten- und Viehzüchtervolkes, das sich selbst „arya“ (Edle)
nannte, begann mit der Eroberung weiter Teile Nordindiens. Bis 200 n. Chr.
dehnten sie ihren Einflussbereich auf das gesamte Gebiet zwischen dem Himalaya-
und dem Vindhya-Gebirge im Zentrum des Subkontinents aus. Die drawidische
Kultur (Harappa-Zivilisation) des Südens konnten sie aber nicht tiefgreifend
beeinflussen, so dass noch heute die Sprachen Südindiens drawidischen
Ursprungs sind, während drei Viertel aller indischen Sprachen dem arischen
Sanskrit verwandt sind. Eine Sammlung volkstümlicher Lieder, magischer
Sprüche und anderer Zeugnisse stellt das erste überlieferte literarische
Werk dieses Volkes dar (die „Veden“: Das Wissen, 1500–1200
v. Chr.). Im Lauf der Zeit vermischten sich Kultur und Religion der Arier
mit denen der Urbevölkerung. Es entstand der Brahmanismus, eine neue
religiöse Vorstellung von der universalen Seele (Brahmas), in der die
Seele des Einzelnen aufgeht sowie vom Kreislauf der Seele in verschiedenen
Leben. Der Brahmanismus gilt als Vorläufer des heutigen Hinduismus. In
den „Upanischaden“ („Buch der Wege“, um 800 v. Chr.)
sind die Naturgötter der Arier durch die Vorstellung von der universalen
Seele abgelöst. Das große indo-arische Epos „Mahabharata“
(um 200 v. Chr.) spiegelt die erneut wachsende Ehrfurcht vor den Tieren
wider – die Menschen jener Zeit aßen vorwiegend vegetarisch. Die
Arier übernahmen von der Indusbevölkerung die Institution der Kasten,
ordneten diese jedoch neu in ein hierarchisch aufgebautes Vier-Kasten-System,
außerhalb dessen nur die „Unberührbaren“ standen,
Angehörige noch nicht assimilierter Stämme und „unreiner Berufe“
wie z. B. Straßenkehrer.
Maurya-Dynastie
Die Herrschaft der Maurya-Dynastie,
die kurz nach dem Einfall Alexander des Großen in Indien (327–325
v. Chr.) einsetzte und im Norden und Nordwesten bis ins 2. Jahrhundert
v. Chr. andauerte, bescherte eine Vielzahl von Überlieferungen,
darunter die ersten gesicherten Daten indischer Geschichte aus eigener Quelle.
Die Religion dieser Zeit war seit etwa 500 v. Chr. der Buddhismus: Siddharta
Gautama, der Buddha (der „Erleuchtete“), verkündete eine mögliche
Erlösung vom brahmanischen Kreislauf der Wiedergeburten durch Meditation,
Selbstvervollkommnung und letztendlich Aufgabe des Ich. Grundlage des Buddhismus
ist die Vorstellung, dass jede Form der Existenz Leiden bedeutet. Buddha lehnte
das Kastensystem entschieden ab. Mit der Kontrolle der wichtigsten Handelswege,
einer durchdachten und repressiven Staatsverwaltung, einem riesigen stehenden
Heer und schließlich dem Anspruch auf eine indische Universalmonarchie
besaßen die Mauryas neue wirksame Herrschaftsmittel. Der dritte und
mächtigste Fürst dieser Dynastie war
Aschoka, nach dessen Tod im Jahr 232 v. Chr. das
Gebiet 500 Jahre lang von Machthabern verschiedener Herkunft regiert wurde.
Sie alle wurden aber über kurz oder lang zu Indern, nahmen indische Namen
an und wurden religiös bekehrt.
Gupta-Dynastie
Nach dem Niedergang der buddhistischen
Großreiche setzte eine brahmanische Renaissance ein, nicht zuletzt deshalb,
weil die Brahmanen für das Staatswesen kleiner Fürstenhäuser
geringere Kosten verursachten als die buddhistischen Mönchsorden. Um
320 n. Chr. erhob sich aus der Mitte dieser Fürstenhäuser die
Gupta-Dynastie. Die Guptas entwickelten eine neue höfische Kultur und
pflegten wieder das klassische Sanskrit. Zwar wurde das Kastensystem noch
strenger als vor der buddhistischen Zeit gehandhabt, die Strafgesetze waren
jedoch wesentlich milder als zur Maurya-Zeit. Unter dem Ansturm zentralasiatischer
Nomaden, der Hunnen, brach das Gupta-Reich Ende des 5. Jahrhunderts zusammen.
Von nun an bis zum Ende des 12. Jahrhunderts verzeichnet der Norden und Nordwesten
Indiens keine einheitliche geschichtliche Entwicklung.
Satavahana-Dynastie
Der Süden Indiens entwickelte eine
eigene Kultur und behielt die drawidische Sprachzugehörigkeit. Die Völker
des Südens waren in erster Linie Fischer und Seefahrer. So betrieb die
Satavahana-Dynastie, die in den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende
weite Teile der südlichen Halbinsel beherrschte, regen Handel und unterhielt
ausgedehnte Geschäftsbeziehungen zu ihren Nachbarn, wie u. a. zahlreiche
römische Münzfunde anzeigen.