Als der 38jährige Blumenhändler Enver Şimşek am 9. September 2000 die Urlaubsvertretung am Blumenstand eines Kollegen antritt, ahnt er nicht, dass sein Leben bald brutal enden wird. Gegen Mittag tauchen zwei Fremde auf, schießen Şimşek mit acht Schüssen kaltblütig nieder, verschwinden. Der türkische Blumenhändler stirbt zwei Tage später im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Der Mord an Şimşek ist nur der Auftakt zu einer ganzen Mordserie an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund, von den Tätern fehlt jahrelang jede Spur, das Motiv bleibt unklar. Erst im November 2011 kommt ans Licht, dass die Morde wahrscheinlich auf das Konto der rechtsterroristischen Organisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gehen. Ein extremistischer Einzelfall oder eine wachsende Gefahr? wissen.de über die rechtsextreme Szene in Deutschland.
Netzwerke rechtsaußen

Kahlgeschorene Demonstranten in Berlin in einer Gruppe rechtsextremer NPD-Anhänger
Picture-Alliance GmbH, Frankfurt/Bernd Settnik
Die rechte Szene ist vorsichtig. Jahr für Jahr werden neue Neonazi-Organisationen verboten, Foren geschlossen, Internetseiten gelöscht. Auch der NPD, dem bislang legalen Arm der rechtsextremen Szene, droht ein Verbot, seitdem Kontakte zwischen einem NPD-Politiker und dem NSU bekannt geworden sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass noch mehr hochrangige Parteimitglieder unter der auf Übereinstimmung mit dem Grundgesetz polierten Parteifassade mit illegal arbeitenden Neonazi-Organisationen kooperieren, ist hoch.
Deren Struktur ist perfekt auf das Katz-und-Maus-Spiel mit den Sicherheitsbehörden abgestimmt: Ein enges, aber informelles Netzwerk verbindet zahlreiche lokale „Kameradschaften“, häufig mit weniger als zehn Mitgliedern. Sie zu verbieten ist behördlich, wenn überhaupt, nur mit erheblichem Aufwand möglich. Daneben ist die im Jahr 2000 verbotene deutsche Sektion des europaweit aktiven Neonazi-Netzwerks Blood & Honour unter dem Namen Division 28 ungebrochen aktiv, wenn auch weniger sichtbar. Ihre Mitglieder organisieren unter falschem Namen Konzerte mit rechtsradikalen Bands, zudem unterhält Blood & Honour einen „bewaffneten Arm“. Auch die mutmaßlichen NSU-Täter Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sollen Ende der 90er Jahre dem Netzwerk angehört haben.
Die dezentrale Organisationsstruktur bringt der Neonaziszene einige Vorteile: Die Gruppen sind sichtbar genug, um Nachwuchs anzuwerben, bieten aber wenig Einblick in Ihre Aktivitäten. Anders gesagt: Wer Neonazis treffen möchte, findet heraus, wo er das tun kann. Wer Insiderwissen erlangen möchte, muss seine Vertrauenswürdigkeit erst persönlich unter Beweis stellen.